Montag, 13. Februar 2017

Nicht zwischen zwei Stühlen, sondern auf beiden Stühlen



„Wenn ich neue Leute kennenlerne, heißt es sehr oft: „Sie sprechen aber gut Deutsch“, was ich in der Regel mit „Danke“ beantworte und mir oft die Ergänzung „Sie auch“ verkneife“, sagt meine Mutter und erzählt, dass es im Gespräch mit der Frage „Woher kommen Sie?“ weitergeht. Je nachdem, wie ich die Ehrlichkeit meines Gegenübers wahrnehme z.B. ob dieser nach Gemeinsamen oder verbindenden Bekanntenschaften sucht, oder mich als Fremde definieren möchte, beantworte ich die Frage oft bewusst mit „Kerpen“. Nach einer ersten Irritation  wird weitergebohrt: „Ja, aber ursprünglich?“ Ich antworte: „Ja genau, in Kerpen bin ich großgeworden und lebe auch weiter da, wo Michael Schumacher, der Rennfahrer herkommt, kennen Sie bestimmt und auch der katholische Priester Adolf Kolping ist dort geboren“. „Ja, aber woher kommen ihre Eltern?“ heißt es weiter, sobald ich „Türkei“ sage, sehe ich die Erleichterung im Gesicht meines Gegenübers, der mir sagt „Wusste ich doch, warum nicht gleich“.“

Meine Mutter ist als Gastarbeiterkind Anfang der 70 er Jahre nach Deutschland, direkt nach Kerpen gekommen. Sie ist die klassische zweite Generation mit Migrationshintergrund und ich die dritte. Deutschland war damals für meine Großeltern eine Zwischenstation, wo man nicht dauerhaft hingehört. Deren Heimat war die Türkei. Sie  wollten, wie viele andere Gastarbeiter zu damaliger Zeit auch, sich nur für eine kurze Zeit in Deutschland aufhalten, Geld sparen und wieder zurück in die Türkei gehen.

Die Sommerferien wurden genutzt, um die Verwandten und Freunde in der Türkei zu besuchen, nicht um sich in einem Hotel oder am Strand zu entspannen.
Kaum angekommen, wurde sie dort gefragt „Wo ist es schöner? Hier oder in Deutschland?“ Man wollte aus ihrem Munde hören, dass es natürlich im Dorf schöner ist. Als sie aber nach drei Wochen Urlaub anfing, nach Deutschland zurückzuwollen, gefiel dies ihren Verwandten und Bekannten nicht. „Ihr seid eingedeutscht“, hieß es, denn Sehnsucht könne man ja nur nach seiner Heimat haben.

In Deutschland angekommen, wurden sie dann als Gastarbeiter oder Ausländer, inzwischen als Migranten, Menschen mit Migrationshintergrund bezeichnet. Hier waren die Erwartungen von deutschen Bekannten, Nachbarn, Lehrern, Freunden nicht anders als in der Türkei. Bei den Fußballweltmeisterschaften zum Beispiel kamen sofort die Fragen, zu welchem Mannschaft sie halten würde und man wollte natürlich hören, dass sie zu der deutschen Mannschaft hält.

So wie meine Großeltern war es auch für meine Mutter sehr wichtig, dass ich meine Verwandte in der Türkei kennenlerne und sie besuchen sollte. Deshalb flogen wir von klein an jedes Jahr ein paar Wochen in den Sommerferien in die Türkei, um Zeit mit ihnen zu verbringen.

Obwohl meine Großeltern selber keine große Schulbildung genossen haben, setzten sie sich sehr für die Bildung meiner Mutter ein. Hierzu erzählte sie mir eine Erinnerung, die sie nicht vergessen kann. „In der Grundschule, als ich mit meinen Hausaufgaben nicht klar kam und meine Eltern mir nicht helfen konnten, fuhr mein Vater mit mir in die Stadtbibliothek. In gebrochenem Deutsch erklärte er der Bibliothekarin seine Verzweiflung, worauf diese sich mit mir hinsetzte und mir bei den Hausaufgaben half, ohne ein Honorar dafür zu verlangen. Damals gab es keine Nachhilfeschulen oder meine Eltern wussten es nicht.“
Meine Mutter ist und war immer eine sehr starke Persönlichkeit. Sie ist nicht die sprachlose, fremdbestimmte, ängstliche und unterdrückte Muslimin, so wie die Medien dies gerne darstellen. Abschließend wollte ich von ihr noch wissen, ob sie integriert wäre.
 „Ich definiere mich als integriert.“ beantwortete sie und argumentierte weiter. „Ich bin eine türkischstämmige Deutsche und habe zwei Heimaten. Sowohl Deutschland, als auch die Türkei. Ich weiß, ich wurde schon belehrt, dass es grammatikalisch für das Wort Heimat kein Plural gibt. Da in einer Heimat die Sozialisation stattfindet und Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen und Weltauffassungen  geprägt werden und ich in Deutschland sozialisiert bin, ist Deutschland meine Heimat. Da Heimat auch sozialer Raum ist und Interaktionen zwischen Menschen beinhaltet, zu dem Bekannten, Nachbarn, Verwandte und Freunde dazu gehören, ist auch die Türkei meine Heimat. Ich sitze nicht zwischen 2 Stühlen, sondern auf beiden Stühlen. Ich möchte beide nicht missen. Ich will mich auch nicht für eins entscheiden.“
 
Ebenso wie meine Mutter fühle ich mich in beiden Ländern sehr wohl. Ich bin hier aufgewachsen und habe beide Sprachen gelernt, was mir auch den Zugang in beiden Ländern erleichtert. Bis zu meinem 5. Lebensjahr war es für meine Mutter wichtig nur türkisch mit mir zu reden, damit ich eben auch mit meinen Verwandten in der Türkei mich unterhalten kann. Deutsch habe ich erst in Kindergarten gelernt. Als ich in die Schule kam, konnte ich noch nicht perfekt Deutsch. Ein Klassenkamerad, der Felix machte sich über mein Deutsch lustig und sagte mir „kaufe die eine Tüte Deutsch“. Ich war darüber sehr traurig und erzählte es meiner Mutter. Sie tröstete mich mit den Worten, dass ich doch zwei Sprachen beherrschen würde und der Felix nur Deutsch. Ich war aber trotzdem traurig und fragte, was mir denn überhaupt türkisch nützen würde. Eine Woche später gab mir meine Klassenlehrerin eine Lehre Kassette und sagte, dass Sie von mir gerne Türkisch lernen wolle. Sie bat mich ihre Vokabeln auf die Kassette zu sprechen. Das freute mich so sehr, dass ich das natürlich gerne gemacht habe. Ich habe mich wertgeschätzt gefühlt. Später erfuhr ich, dass meine Mutter meiner Lehrerin den Vorfall erzählt hatte. 
Diese Aufwertung meiner Muttersprache motivierte mich beide Sprachen zu Pflegen. Dadurch habe den Zugang zu beiden Ländern und fühle mich in diesen beheimatet.